Nach seinen erfolgreichen Dokumentarfilmen „Der Mann auf dem Balkon“ und „Schlagt mich, ich verrate nichts!“ beschäftigt sich Kurt Brazda in seinem neuen dokumentarischen Essay mit den Wurzeln zeitgenössischer Musik in Österreich nach 1945. Im Fokus dabei steht der Komponist Karl Schiske (1916 - 1969), der als Wegbereiter der modernen Musik in Österreich gilt. Gabrielle Schultz traf Kurt Brazda und seinen Kameramann Benjamin Epp bei den Dreharbeiten.
Vor mehr als 100 Jahren, am 12. Februar 1916, erblickte Karl Schiske in Raab/Ungarn (heute Györ) das Licht der Welt. Einen Großteil seines Lebens verbrachte er in Orth an der Donau, wo er sich neben der Zwölftonmusik der Wiener Schule unter anderem auch mit der Vokalmusik des Mittelalters und der Renaissance beschäftigte. Zum Komponieren zog er sich in die Berge und in die Orther Donauauen zurück. Wie kein anderer Komponist hat er die österreichische Musikgeschichte nach 1945 geprägt.
Sein ehemaliger Schüler Ivan Eröd beschreibt ihn als „Erzieher von Rebellen“, dessen Lehrmethoden und Kompositionen der österreichischen Avantgarde den Weg geebnet haben.
Der junge Schiske startete seine Komponistenlaufbahn zu Ende der dreißiger Jahre. Einige Uraufführungen, darunter zum Beispiel das
1. Streichquartett op. 4, das Vorspiel für großes Orchester op. 6 oder das Konzert für Klavier und Orchester op. 11, datieren aus dem Jahr 1939.
1952 erhielt er den ersten Lehrauftrag an der Akademie für Musik und darstellende Kunst für die Fächer „Musiktheorie“ und „Musikalische Grundschulung“. Jeden Morgen fuhr er, wie seine noch lebende Frau Bertha erzählt, zum Unterricht mit seinem Moped. Binnen kürzester Zeit drang der Ruf der sogenannten Klasse Schiske über Österreichs Grenzen hinaus. Zu seinen Schülern gehörten international renommierte Komponisten und Musiker wie Erich Urbanner, Ivan Eröd, Günter Kahovec, Gösta Neuwirth, Kurt Schwertsik, Dieter Kaufmann und Klaus Peter Sattler, die in Kurt Brazdas dokumentarischen Essay einen Blick zurück nach vorne werfen.
Österreich erlebt derzeit eine Schiske-Renaissance. Anlässlich seines 100. Geburtstags widmet das Museum in Orth ihm eine Sonderausstellung. Du arbeitest schon seit einigen Jahren an einem dokumentarischen Essay über Schiske, das jetzt realisiert wird.
Man kann Karl Schiske ohne Übertreibung als einen der bedeutendsten österreichischen Komponisten des 20. Jahrhunderts bezeichnen. Je mehr man sich mit seiner Musik auseinandersetzt, umso nachvollziehbarer wird sein Einfluss auf die zeitgenössische Klangsprache. Als großer Symphoniker hat er das Erbe von Brahms und Bruckner aufgegriffen und es auf eine unverwechselbare Art und Weise in die Zeit seines Schaffens übertragen. Gleichzeitig hat er entscheidende Impulse für die musikalische Entwicklung der ihm nachfolgenden Generation gesetzt. Es ist ein typisches „Austriacum“, dass er als schöpferischer Musiker bislang noch nicht jene öffentliche Wertschätzung erfahren hat, die ihm eigentlich zusteht.
Bei der Gestaltung des Films verlässt du die für die dokumentarische Arbeit üblichen Raster und orientierst dich am Prinzip des Essays.
An dem visuellen Konzept haben Benjamin Epp und ich lange gefeilt.
Die Bildsprache bedient sich dabei ähnlich wie in der Musik aleatorischer Abläufe, die auch durch audiovisuelle Kontrapunktik in Spannungszuständen gehalten werden und unerwartbare fast enigmatische Deutungen zulassen. Neben einer lebendigen kulturhistorischen Nachzeichnung streben wir eine spezifische cineastische Paraphrasierung der Musik an. Damit soll die Faszination zeitgenössischer Musik suggestiv vor allem jungen Menschen im Sinne des Geheimnisvollen und Subversiven nahegebracht werden.
Was bedeutet das für die Kameraarbeit?
Speziell für die musikalischen Visualisierungen suchen wir Motive und Kamerapositionen, die nicht nur das Klangbild reflektieren, sondern ebenso als Stimulans für die Zuseher dienen, eigene Assoziationen zu entfesseln. Für die Bildgestaltung heißt das, dass Schauplätze und Vorgänge gefunden werden müssen, die den Intentionen der Klangschöpfer entsprechen, aber darüber hinaus aber auch eine ganz persönliche cineastische Aufladung durch die Gestaltung bekommen.
Karl Schiskes Werk ist geprägt von den wichtigsten Einflüssen der Avantgarde und doch von unverwechselbarer Charakteristik.
Das Werk orientiert sich zwar zunächst an der seriellen Praxis der 2. Wiener Schule, allerdings hat Schiske jeglichen Anflug von Dogmatik vermieden. Seine Musik ist geprägt von großer Sinnlichkeit und Emotionalität, was sie einem breiteren Publikum erschließbar macht.
Worauf verweist der Arbeitstitel des Films?
Evolution auf B bezieht sich auf Schiskes Spätwerk, auf seine 5. Symphonie. Die beigefügte Bezeichnung „auf B“ verweist auf Motive der großen Meister Bach, Brahms und Bruckner, aber auch auf seine „liebe Frau Bertie“.
Wie ausgeprägt sind mögliche theoretische Exkurse?
Der Film vermeidet jeglichen theoretischen Exkurs in Kompositionslehre und Musikgeschichte, sondern beschwört anhand der Persönlichkeit Schiskes eine Epoche, in der die Weichen für eine neuartige Wahrnehmung aller Künste gestellt wurden, die auch noch heute im massenmedialen Zeitalter wirksam ist.
Es ist kein Zufall, dass sich unter seinen Schülern zahlreiche Komponisten finden, die heute höchst erfolgreich Unterhaltungsmusik und Soundtracks für Filme schufen und schaffen, wie zum Beispiel Klaus Peter Sattler. Andererseits auch solche, wie der bedeutende Musik- und Sprachkünstler Otto M. Zykan, der Gesamtkunstwerke ganz eigener Prägung schuf.
Wird der Film auch im ORF zu sehen sein?
Wir wissen noch nicht, ob es zu einer Fernsehausstrahlung kommen wird. Der ORF findet das Projekt interessant und ist insofern auch ein wichtiger Partner, als viele Kompositionen Schiskes vom vormaligen ORF Orchester eingespielt wurden und auf CD erschienen sind. Vom Oratorium „Vom Tode“ gibt es beispielsweise nur eine LP des ORF Orchesters unter Miltiades Karidis, die nicht mehr im Handel erhältlich ist.
Nach der Uraufführung werden wir weitersehen, bis dahin haben wir ja noch genug Zeit, um einen Verleih bzw. Vertrieb von dem Projekt zu überzeugen.
Das Klangforum Wien hat dankenswerterweise seine Unterstützung und Mitwirkung am Filmprojekt zugesagt, was sich in einem Gespräch mit dem Intendanten Sven Hartberger kürzlich ergeben hat. Ebenso hat die für die Interpretation zeitgenössischer Werke bekannte Pianistin Margarete Babinsky mit Begeisterung uns ihrer Mitwirkung versichert.
The "Klasse Schiske" at the Vienna Music Academy was, as it were, the "big bang" for contemporary music as we know it today. The film is therefore also a subjective inventory of this scene and its protagonists, who now have a great international reputation and wants to arouse enthusiasm with cinema.
– Kurt Brazda –